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America Windows, Ein Meisterwerk der Glasmalerei von Marc Chagall

Der Anblick von Marc Chagalls America Windows im Art Institute of Chicago ist eine nahezu überwältigende Erfahrung. Mit einer Größe von 244 × 978 cm stellen die drei bunten Glasfenster die Bedeutung der Stadt für die Welt der Musik dar, Symbole für das friedliche Miteinander und die Wichtigkeit der Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten. Während Marc Chagall in erster Linie für seine Gemälde und Zeichnungen berühmt ist und als einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts gilt, geht Singulart in diesem Beitrag auf seine Glasmalerei ein, insbesondere auf die beeindruckende Gestaltung der America Windows.

Wer war Marc Chagall?

Chagall wurde 1887 in Witebsk im heutigen Weißrussland geboren. Als Sohn einer jüdisch-orthodoxen Arbeiterfamilie mit neun Kindern war seine Kindheit geprägt vom ärmlichen Leben in einer fest zusammenhaltenden Gemeinschaft im jüdischen Viertel von Witebsk. In seiner Biografie Mein Leben (1957 auf Deutsch erschienen) schrieb er über den Alltag in dem von Antisemitismus geprägten Russland: „Dort war ich noch ein Junge und fühlte auf Schritt und Tritt – man ließ es mich fühlen! –, dass ich ein Jude war.“

Portrait of American Windows creator Chagall at work.
Portrait of Chagall at work.

Mit dem Zeichnen begann er in einer städtischen Schule, die normalerweise keine Juden aufnahm, allerdings dank der finanziellen Bestechung eines Lehrers durch Chagalls Mutter für ihn eine Ausnahme machte. 1906 wurde er Schüler im Atelier von Jehuda Pen und zog anschließend in die Hauptstadt Sankt Petersburg, wo er verschiedene Kunstakademien besuchte. In seinem Studium an der Swansewa-Kunstschule machte ihn deren Leiter Léon Bakst mit der Malerei von Paul Gauguin, Vincent van Gogh und Paul Cézanne bekannt. Chagall schuf seine ersten bekannten Werke und besuchte immer wieder seinen Heimatort Witebsk, wo er auch seine spätere Ehefrau Bella Rosenfeld kennenlernte.

1910 war es Chagall durch ein Stipendium möglich, nach Paris zu ziehen. Beeinflusst durch Elemente des dort vorherrschenden Kubismus, schuf er unter anderem eines seiner berühmtesten Werke, Ich und das Dorf. Während er den Motiven von Witebsk treu blieb, fanden sich nun auch Einflüsse von Paris in seinen Werken wieder, etwa der Eiffelturm und der Pariser Dom. Er war mit einigen Schriftstellern befreundet, darunter Guillaume Apollinaire, durch dessen Vermittlung 1914 Chagalls erste große Einzelausstellung mit 40 Gemälden und 120 Zeichnungen in Herwarth Waldens Galerie Der Sturm in Berlin stattfand.

Während Chagall Verwandte in Russland besuchte, brach der Erste Weltkrieg aus, wodurch seine Rückkehr nach Paris nicht mehr möglich war. 1915 heiratete er Bella Rosenfeld, war während des Ersten Weltkriegs in einer Schreibstube beschäftigt und schuf eine Serie von Bildnissen von Juden. 1918 wurde Chagall zum Kommissar für bildende Kunst in Witebsk ernannt, gründete Museen und eine eigene Kunstschule. Samt Familie zog er 1920 nach Moskau, wo er Wandbilder, Dekorationen und Kostüme für das Jüdische Theater entwarf, jedoch in Armut lebte.

American Windows: A group of students photographed at the Vitebsk Popular Arts School , c. early 1900s.
A group of students photographed at the Vitebsk Popular Arts School , c. early 1900s.

Aus finanziellen Gründen und aus Angst vor der eingeschränkten Kunstfreiheit in Russland verließ die Familie 1922 Russland, zog zunächst nach Berlin, dann nach Paris und lebte in Folge jahrelang in Frankreich. In dieser äußerst produktiven Periode schuf Chagall unter anderem Radierungen für seine eigene Biografie Mein Leben und zahlreiche Illustrationen für literarische Werke. 1941 wurde er bei einer Razzia in Frankreich festgenommen; eine drohende Auslieferung an die Deutschen konnte durch Intervention aus den USA nur knapp verhindert werden. Die Familie Chagall verließ daraufhin im Mai 1941 Frankreich und zog in die USA. Dort wurden seine Werke gefeiert, und 1946 fand die erste Retrospektive im Museum of Modern Art in New York statt.

Chagall kehrte 1948 nach Paris zurück und ließ sich wenig später in Vence an der Côte d’Azur nieder. In den 1950er- und 1960er-Jahren unternahm er zahlreiche Reisen und widmete sich neben Malerei und Zeichnung der Lithografie, Keramik und Glasmalerei. Er druckte auf einer eigenen Druckpresse selbst Monotypien, schuf Bronzen, Reliefs, Mosaiken und webte Wandteppiche. Chagall erhielt zudem Aufträge aus aller Welt für Arbeiten an öffentlichen Gebäuden, darunter Deckengemälde für die Kuppel der Pariser Opéra Garnier und Wandgemälde für die Metropolitan Opera in New York. Auch nach seiner in frühen Jahren verfassten Biografie Mein Leben war er weiterhin als Autor tätig und verfasste Texte, Gedichte und Artikel über Kunst und Literatur in jiddischer Sprache. Marc Chagall verstarb 1985 im Alter von 97 Jahren in St. Paul de Vence. 

Chagalls Glasmalerei

Weltberühmt für seine traumartigen Gemälde, wird Chagall auch gerne als „der Dichter der Malerei“ und „Poet der Farben“ bezeichnet. Mit Glasmalerei begann er erst, als er fast 70 war. In jahrelanger Arbeit schuf Chagall unter anderem Kirchenfenster für die Kathedrale von Metz und Notre-Dame in Reims, für die Synagoge der Hadassah-Universitätsklinik in Jerusalem und die Kirche St. Stephan in Mainz. Bereits in seiner Malerei waren Farbe, Substanz und „das Licht von jenseits der Leinwand“ die wichtigsten Elemente. Bei der Glasmalerei tauschte er nun die Leinwand gegen Glas aus und übertrug seine meisterhafte Beherrschung der Farbgebung auf ein anderes Medium.

Three stained glass windows made by Chagall for the axial chapel of the Reims Cathedral.

Die monumentalen Glasfenster schuf Chagall natürlich nicht im Alleingang, sondern mit Hilfe von Brigitte Simon und Charles Marq. Die beiden Glaskunstmeister waren die Leiter des international bekannten Ateliers Simon in Reims und unterstützten Chagall bei der Lösung technischer Probleme. So entwickelte Charles Marq eine Technik, durch die Chagall bis zu drei Farbtöne auf einer Glasscheibe ohne Unterbrechung einsetzen konnte. Dies war eine Errungenschaft in der Glasmalerei, denn zuvor musste man verschiedene Farbtöne jeweils durch einen Bleistreifen voneinander trennen. Charles Marq verwendete Säure zum Ätzen des Überfangglases, wodurch subtile Abstufungen in den Farben der Fenster entstanden. Bei der Zusammensetzung der einzelnen Scheiben setzte er Bleiruten ein, um die ins Glas geätzten Bilder voneinander abzugrenzen. 

America Windows 

Chagall schenkte die America Windows 1977 dem Art Institute of Chicago und widmete sie dem verstorbenen Bürgermeister Richard J. Daley. Bereits 1974 hatte Chagall ein Werk für Chicago geschaffen: das großformatige Mosaikwandbild Four Seasons aus 128 einzelnen Teilen, das in der Innenstadt am Chase Tower Plaza zu sehen ist. Bei einem Besuch der Stadt zu dessen Präsentation erfuhr Chagall vom Plan des Vorstands des Art Institutes, eine Galerie in seinem Namen einzurichten. Davon berührt, bot der damals 87-jährige Chagall an, etwas für die Galerie zu gestalten. Sein Entwurf dafür waren eine Reihe Buntglasfenster – die America Windows. Für Chagall war es wichtig, dass diese Fenster ein Spiegelbild der Stadt sein sollten. Er schickte Charles Marq nach Chicago, um die Stadt und die Lichtverhältnisse zu studieren, insbesondere das Licht am Art Institute of Chicago. Chagall schuf den Originalentwurf für die Fenster in Aquarell und Gouache.

Die America Windows zeigen in leuchtenden Farben Darstellungen von Menschen, Tieren und Gegenständen wie Schreibgeräten, Musikinstrumenten und Künstlerwerkzeugen, die über einer Skyline von Gebäuden und Bäumen schweben. Die Glasfenster bestehen aus drei Hauptabschnitten, die in jeweils zwei Teile unterteilt sind. Die insgesamt sechs Flächen zeigen Motive, die die Kunst und den unabhängigen Geist der Vereinigten Staaten ehren. Von links nach rechts betrachtet, widmet sich der erste Teil der Musik, der zweite der Malerei und der dritte der Literatur. Im vierten Teil ist ein fliegender Vogel über der Freiheitsstatue zu sehen (die Frankreich den USA zum hundertjährigen Jubiläum geschenkt hat), was Betrachter an die Gründungsprinzipien von Freiheit und Demokratie erinnert. Der fünfte Teil zeigt eine Theaterbühne, und der sechste widmet sich dem Tanz. Alle Flächen teilen dieselbe Horizontlinie und erzeugen so eine einzige Szenerie von persönlicher und künstlerischer Freiheit.
Über seine Leidenschaft für die Glasmalerei meinte Chagall:

„Es scheint mir nämlich, dass das Schicksal einen zwingt, in seinem Leben gewisse Arten von Arbeiten zu unternehmen, und dass ich bunte Glasfenster machen musste. Ich musste ans Tageslicht dringen.“

Gefällt Ihnen Chagalls Kunst? Stöbern Sie durch die von Marc Chagall inspirierte Sammlung auf Singulart um kontemporäre Künstler mit einem ähnlichen Stil zu entdecken.

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