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Genremalerei – Die Ästhetik des Alltäglichen

Brueghel

Ein Genrebild, auch Sittenmalerei oder Sittenbild genannt, rückt alltägliche Handlungen ins Zentrum des Kunstwerks. Das können spezifische Einzelszenen sein, größere Menschengruppen oder sogenannte „Wimmelbilder“. Zumeist werden keine identifizierbaren Persönlichkeiten dargestellt, sondern eher Prototypen einer Gesellschaftsschicht oder Gruppe. Schon in der Antike waren diese Darstellungen weit verbreitet, die moderne Genremalerei kam jedoch vor allem in den Niederlanden und Flandern des 16. und 17. Jahrhunderts auf. Auch heute noch schätzen Künstler die Ästhetik des Alltäglichen. Aber was macht diese Gattung so interessant für Künstler und Betrachter?

Die Genremalerei im 16. und 17. Jahrhundert

Die frühen Genrebilder in Flandern und den Niederlanden porträtieren die Gesellschaft, ihre alltäglichen Gewohnheiten und Sitten eher im Hinblick auf ihre Unzulänglichkeiten, sie fokussieren sich dabei auf Negativbeispiele und nahmen eine moralisch belehrende Rolle ein. Der in Brabant geborene Pieter Brueghel d.Ä. schuf die wohl bekanntesten moralisierenden Genreszenen des 16. Jahrhunderts. In seinen Bauernszenen zeigt er feiernde, betrunkene oder arbeitende Personen. Die teilweise vulgären Szenen der anonymen Bauern waren für die damalige Zeit in dieser Form einzigartig. Sicherlich spielten die seit Beginn des 16. Jahrhunderts aufkommenden reformatorischen Strömungen, in den Niederlanden vor allem der Calvinismus mit seinem strengen puritanischen Regelkanon, eine große Rolle bei der Entstehung dieser moralischen Lehrbilder.

Pieter Brueghel d.Ä., Der Bauerntanz (1568)

Auch im darauffolgenden Jahrhundert verlieren die Werke nichts von ihrer moralisierenden Funktion. Künstler wie der Niederländer Johannes Vermeer gehen diese Bildgattung jedoch weniger unmittelbar belehrend an. Seine Werke, wie die Szenen mit jungen Frauen, bieten dem Betrachter mehr Raum zur Interpretation und zeigen das Genrebild eher von einer geheimnisvollen und rätselhaften Seite. Perspektive, Lichtsituation, Architekturen, Stoffe und Materialien aller Art – all dies spielt eine entscheidende Rolle für seine fast mystischen und hoch ästhetisierten Alltagsszenen. Der Künstler zeigt hier mit vermeintlich alltäglichen Sujets sein ganzes Können und macht die Malereien zu einem Fest für die Augen.

Johannes Vermeer, Milchmagd (1658-1660)

Die zeitgenössische Genremalerei

In der zeitgenössische Malerei werden weiterhin Alltagsszenen dargestellt, die man als Genreszenen bezeichnen könnte. Mit diesen können wir uns heute selbstverständlich viel mehr identifizieren als mit dem Alltag einer Delfter Milchmagd des 17. Jahrhunderts. Aber was macht den Reiz der zeitgenössischen Genrebilder aus? Wir schauen uns einige Beispiele unsere Künstler an und werfen einen Blick auf die ästhetischen Merkmale dieser Kunstwerke.

Mit seinem Kunstwerk Lecture du quotidien zeigt uns der französische Maler Alain Pontecorvo eine alltgägliche Tätigkeit. Die lesende Person rückt in den Hintergrund, Hauptaugenmerk liegt auf der Zeitung. Wie auch in den Genreszenen des 16. und 17. Jahrhunderts, wird bei genauerem Hinsehen sofort klar, dass es sich hierbei um eine perfekt inszenierte Komposition handelt. Wir sehen keinen Hintergrund, lediglich eine Lichtquelle von rechts verortet die Person auf dem Stuhl sitzend im Raum. Diese künstlerische Inszenierung ähnlich einer Theaterbühne betont die Ästhetik des Alltäglichen.

Alain Pontecorvo, Lecture du quotidien (2013)

Der britische Künstler John Macaulay gewährt uns mit seinen Werken der Reihe Domestic Interiors Einblick in die Haushalte Großbritanniens. Seine Art der Darstellung vermeintlich trivialer Szenerien zeigt uns hingegen vielmehr als das. Mit Witz und Ironie setzt er das kleinbürgerliche Leben in Szene und lässt uns dabei über die dargestellten Personen oder sogar uns selber schmunzeln, sollten wir uns selbst in einigen Szenen wiedererkennen – die Genremalerei als Mittel der Selbstironie.

John Macaulay, Sunday (2016)

Das Werk Tour de Table des französischen Malers Marc Dailly zeigt uns ein familiäres Abendessen. Die Perspektive erinnert an eine Fotografie mit Fischaugenobjektiv. Gesten und die Haltung der dargestellten Kinder und Erwachsenen wirken nicht gestellt, eher wie eine Momentaufnahme. Besonders frappierend und einzigartig unter den in diesem Artikel aufgeführten Werken ist, dass wir selbst Teilnehmer der Alltagsszene werden. Wir haben es mit einem immersiven Bild zu tun: Der Teller am unteren Bildrand zeigt an, dass wir als Betrachter mit der Familie am Tisch sitzen.

Marc Dailly, Tour de Table (2017)

Diese Vielfältigkeit der Genreszenen, von denen wir hier nur einen kleinen Ausschnitt genauer betrachten konnten, macht klar, warum die Genremalerei noch heute so interessant ist. Wohl kaum ein anderes Genre ist so nah an unserem Alltag, bedient sich unserer Gewohnheiten sowie Sitten und setzt diese auf eine facettenreiche Weise ins Bild, mal mit Witz und Ironie, mal mit inszenierter Ästhetik, die uns staunend zurücklässt.

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