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Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Es gibt Gemälde, die zu kunsthistorischen Ikonen avancieren und allgegenwärtig sind. Wir sehen sie gedruckt und vervielfältigt auf Kalendern, Notizbüchern oder Postkarten. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, es transportiert Emotionen, lässt den Betrachter in eine andere Welt und Zeit eintauchen. Jedoch liegt die Hintergrundgeschichte ohne eingehende Recherche im Verborgenen. Was bewegte die Künstler zu jener Thematik? Wer sind die abgebildeten Personen? Gibt es kodierte Botschaften? Oft entsteht gerade aus dem Unwissen eine noch größere Anziehungskraft.

Ein klassisches Beispiel für ein Werk, dass aus der Faszination um seinen chiffrierten Inhalt gespeist wird, ist das Mädchen mit dem Perlenohrring von Jan Vermeer. Omnipräsent und doch umgeben von einer Mystik die wir nicht entschlüsseln können. Wer ist dieses sinnliche Mädchen, das den Betrachter mit ihrem eindringlichen und zugleich neugierigen Blick fesselt? Diese Frage inspirierte etwa Tracy Chevalier zu einem Roman, der zum Bestseller wurde und dem später eine Hollywood Film Adaption folgte. Anhand von zwei vortrefflichen Kunstwerken wollen wir ein wenig Licht ins dunkel bringen und die interessante Hintergrundgeschichte hinter diesen Bildikonen entdecken:

Andrew Wyeth – Christina’s World

Christina’s World entstand  1948 und ist eines der bekanntesten Werke der US-amerikanischen Malerei des 20. Jahrhunderts. Im realistischen Stil gehalten, ist es dem magischen Realismus zuzuordnen. Das Gemälde zeigt eine idyllische Landschaftszenerie. Wir sehen die weiten Kornfelder von Maine an einem hellen, jedoch leicht bewölktem Tag. In der Ferne befindet sich ein Wohnhaus mit umliegenden Scheunen. In dem Feld aus langen, gelben Gras liegt im Bildvordergrund eine junge Frau, die dem Betrachter ihren Rücken zukehrt und wie es scheint, sehnsuchtsvoll zu dem Bauernhaus in der Ferne blickt. Unvermeidlich stellen wir uns die Frage nach dem Grund? Ersehnt das junge Mädchen ein Treffen mit ihrem Liebsten? Trauert sie einer geendet Liebe nach? Die gedeckte Farbpalette des Gemäldes transportiert einen verklärte Stimmung, die diese Vermutungen unterstreichen würde.

Christina’s World,
Andrew Wyeth 1948, egg tempera on wood,
New York, Museum of Modern Art

Recherche fördert jedoch eine dramatische Geschichte zu Tage, die völlig konträr zu dieser Vermutung und ersten Assoziation ist. Die auf dem Bild dargestellte Frau ist Anna Christina Olson (1893–1963). Sie wohnte mit ihrer Familie in Cushing, im US-Bundesstaat Maine und das Haus in der ferne gehört ihrer Familie. Andrew Wyeth besass in der nähe sein Sommerhaus und Wyeth wurde zu diesem Bild inspiriert, als er Anna Christina Olson über ein Feld krabbeln sah, während er von einem Fenster im Haus aus zusah. Tatsächlich litt  diese nämlich an einer unheilbaren neurologischen Erkrankung, die zu einem zunehmenden Muskelschwund führt und sie sich nur noch kriechend fortbewegen konnte.

Betrachten wir das Bild erneut unter diesen historischen Begebenheiten, erscheint die gedeckte Farben, die Wyeth für dieses Gemälde wählte, nicht mehr verklärt, sondern bedrückend. Die Protagonistin ist keine sehnsuchtsvolle Liebende mehr, sondern ein hilfloses Mädchen, das nach hilfe ruft. Möglicherweise hat sie keine Kräfte mehr, um Ihr Wohnhaus zu erreichen und hält sehnsüchtig nach Hilfe ausschau. Das wissen um Anna Christina Olson’s neurologische Erkrankung wirft außerdem ein neues Licht auf ihre Physiognomie. Ihre liegender Körper wirkt unnatürlich und ihre Hände sind dünn und klammern sich krampfhaft an die Grashalme.

Henri Matisse – Sitzende Frau

Henri Matisse, Sitzende Frau, 1921, Öl auf Leinwand, Privatbesitz Familie Rosenberg

Sitzende Frau entstand 1921 und ist ein Werk des französischen Malers Matisse, das zeitlich seiner Nizza-Periode (1917–1929) zugeordnet werden kann.  Porträts, lichtdurchflutete Interieurs, Stillleben und Landschaften standen in dieser Periode im Zentrum seines Darstellungsinteresses. Außerdem wiesen seine Werke mehr naturalistische Züge auf als jemals zuvor. Die Liebe zur Farbe und zum Detail wird durch außergewöhnliche ornamentale Farbflächen deutlich, wie auch in diesem Werk ersichtlich. Wir sehen eine im Sessel sitzende Dame frontal im Bildvordergrund. Sie hat ihre Hände im Schoß liegen und hält einen Fächer. Ihre Arme und Hals zieren Geschmeide und ihr Haar wird von einem transparenten, mit blumen bestickten Tuch geschmückt. Dieses Werk galt 75 Jahre als verschollen. 

Die Geschichte zu diesem Werk könnte einem Kriminal Roman entsprungen sein und beginnt mit einer Routineüberprüfung eines älteren Passagiers im Zug von Zürich nach München im Jahre 2010. Der Passagier heisst Cornelius Gurlitt und aufgrund einer verdächtig hohen Summe Bargeld, entschlossen sich die Beamten die Untersuchung in seiner Münchner Wohnung fortzusetzen. Dort stießen sie auf eine erstaunliche Sammlung von Gemälden, einige davon angeblich in Gemüsekisten aufbewahrt. Es handelte sich um eine Kunstschatzkammer mit mehr als 1.000 Werken von bedeutenden Künstlern wie Picasso, Chagall, Dix, Klee, Courbet, Degas, Renoir und Matisse. Geschätzter Wert: Mehr als 1 Milliarde Dollar. Gurlitts Vater war Kunsthändler, der den Nazis geholfen hatte, die den Juden gestohlenen Werke zu verkaufen und zu tauschen, so war sein Sohn nach dessen Tod in den Besitz dieses enormen Kunstschatzes gelangt.

Der ursprüngliche Besitzer der Sitzenden Dame von Matisse, war Paul Rosenberg, Kunsthändler und Freund des Künstlers, der 1940 vor den Nazis floh. Viele seiner Werke wurden geplündert, deshalb widmete sich Rosenberg bis zu seinem Tod 1959 dem Versuch, 400 von den Nazis gestohlene Werke wiederzufinden. Die Sitzende Frau von Matisse hat ein glückliches Ende gefunden: Durch die Arbeit der Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ und Provenienzforschung , konnte das Werk den Erben Rosenbergs zurückgeben werden.

Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte, aber ohne Hintergrundwissen bleibt wichtiges im Verborgenen.