Alte und neue Meister  •  Kunstgeschichte

Die legendären Künstlerbars

2018 in Manhattan, Lower East Side, an einem Abend unter der Woche im Beverly‘s: In rosa Neonlicht getaucht, sitzt eine junge Gruppe von Gästen und trinkt billiges Dosenbier. In der schlauchförmigen Bar essen Stammgäste Chips mit Guacamole-Dip von einem nahegelegenen Imbiss. Ihr Kleidungsstil – weiße Sneakers und stylishe Jogginghosen – deutet auf den Betrieb der Bar im Allgemeinen hin: mühelos hip.

Doch Details wie die Skulpturen und Gemälde an der Wand hinter dem Tresen und die laufende Videoinstallation lassen die Unterschiede zu den durchschnittlichen Kneipen in Manhattan erahnen. Hier gibt es in abwechselnden Ausstellungen vor allem die Kunstwerke aufsteigender Künstler zu sehen. Mit dabei waren etwa schon die multidisziplinäre Künstlerin Rose Nestler, der Fotograf Sean Fader, die Keramikkünstlerin Roxanne Jackson und viele andere. Die Besitzer der Bar sind selbst Künstler.

Das Beverly‘s setzt eine lange Tradition von Bars fort, die nicht nur auf Kreative ausgerichtet sind, sondern oft auch eine entscheidende Rolle für deren Gespräche und Karriere spielen. Besonders in New York, London und Paris waren künstlerische Tankstellen Schauplatz legendärer Konflikte, philosophischer Debatten und unzähliger Vernetzungsmöglichkeiten. Diese Lokale wurden zu beschwipsten, aber geschützten Räumen – zumindest für diejenigen, die ihre Grenzen kannten.

Bar

La Closerie des Lilas, Montparnasse

In Paris haben Bars die Entstehung der Moderne gefördert. In seinem 2018 erschienenen Buch „Picasso and the Painting That Shocked the World“ beschreibt Miles J. Unger das Lokal La Closerie des Lilas in Montparnasse als eine „unverzichtbare Station auf der Reiseroute für alle, die sich für zeitgenössische Kunst interessieren“. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mischten sich hier an Dienstagabenden Schriftsteller (Arthur Rimbaud, Ernest Hemingway, Gertrude Stein) und bildende Künstler (Pablo Picasso, Henri Matisse, Amedeo Modigliani, Man Ray) unter die Leute und diskutierten bei einem Drink über Philosophien und Stilrichtungen. Neben den üblichen Genüssen einer Brasserie konnten sich Gäste auf die üppigen Lederbänke sinken lassen und live gespielter Klaviermusik lauschen.

Closerie des lilas

Im Café de Flore am Boulevard Saint-Germain (im Stil des Art Deco gehalten und mit Blumen über einem breiten Markisenvordach) haben Leute wie Apollinaire und André Breton in den 1910er Jahren die Prinzipien des Surrealismus eingeführt. Jahre später war etwa der Musiker Serge Gainsbourg ganz vernarrt in den doppelten Pastis des Lokal.

Café de flore

Café de Flore, Saint-Germain-des-Près, Paris

Auf der anderen Straßenseite war es das Les Deux Magots – hell und fröhlich mit jeder Menge Sitzgelegenheiten im Freien zum Kaffeetrinken –, das auf ähnliche Weise die Intellektuellen der Stadt zusammenbrachte und Brutstätte für so manche glühende Romanze wurde. Dora Maar traf dort 1936 auf Picasso, wurde daraufhin sowohl selbst zu einer anerkannten Künstlerin als auch zur Muse und Geliebten Picassos.

Les deux Magots 2

Les deux Magots, Saint-Germain-des-Prés, Paris

Der nahegelegene Jazzclub Le Tabou, der erst um 4 Uhr morgens schloss, diente Existenzialisten als spätnächtlicher Treffpunkt. In der Kellerbar prallten kulturelle Welten aufeinander. In seinem Buch „Birth of the Cool“ erzählt der Autor Lewis MacAdams, wie hier der Schriftsteller Boris Vian den Jazzmusiker Charlie Parker und den Philosophen Jean-Paul Sartre miteinander bekannt machte.

Doch in den 1940er und 50er Jahren – kurz nachdem der Zweite Weltkrieg Paris und den Rest Europas für immer verändert hatte – wurde New York durch das Aufkommen des abstrakten Expressionismus zu einem neuen Zentrum der Kunstwelt. Vertreter der Stilrichtung trafen und stritten sich in der Cedar Tavern in Greenwich Village. Jackson Pollock trat die Tür zur Herrentoilette ein. Willem de Kooning drohte nach einem theoretischen Streitgespräch, den Kritiker Clement Greenberg zu verprügeln. (Je nachdem, wen man fragt, mag er das auch in die Tat umgesetzt haben.)

Cedar Tavern

Cedar tavern, New York City

Das Lokal wurde 2013 endgültig geschlossen, doch Nostalgie bewahrte die Bar vor der Zerstörung: Der Tresen wurde vom Restaurant Eberly in Austin gekauft, zerlegt und vor Ort in Texas wieder zusammengebaut. Tom Maitland, Manager des Restaurants und früher selbst einmal New Yorker, besuchte die Cedar Tavern regelmäßig in den 1990ern, nachdem das Lokal in seinen Worten zu einer „Bar für Studentenverbindungen der New York University“ geworden war.

Andere einstige In-Lokale ereilte ein ähnliches Schicksal, lang nachdem die Künstlerszene weitergezogen war: In Paris sind das Café de Flore, La Closerie des Lilas und Les Deux Magots zwar nach wie vor offen, doch sind diese Lokale heute Touristenattraktionen, und das sonstige Publikum hat mit der Bohème nichts zu schaffen.

In New York erwarben sich die abstrakten Expressionisten einen Ruf für ihr grüblerisches, aggressives Naturell. Was danach folgte, war extrovertierter: die Szene der Pop Art. Neben Benday Dots und einem Schwerpunkt auf Alltagsgegenstände wurden eine Promi-Kultur und dazugehöriges Feiern zu integralen Bestandteilen dieser Ära.

Max Kansas's city

Max’s Kansas City

Während die Cedar Tavern für die Unfreundlichkeit gegenüber homosexuellen Männern berüchtigt war (Pollock beschimpfte dort einmal Larry Rivers und Frank O’Hara mit homophoben Beleidigungen), reagierten Andy Warhol und die Weggefährten seiner Factory Studios, indem sie das Max‘s Kansas City zu einem alternativen Außenposten der Kunstszene machten. Dieses Restaurant mit Nachtclub an der Park Avenue South begrüßte zwischen 1965 und 1981 Persönlichkeiten wie Robert Mapplethorpe, Patti Smith und Debbie Harry (heute berühmt als Frontfrau der Band Blondie, damals arbeitete sie nebenbei auch als Kellnerin in diesem Lokal).

Die Zeit des Max‘s Kansas City war auch die Blütezeit der glamourösen, extravaganten New Yorker Nachtclubs. Das 1977 eröffnete Studio 54 wurde zum Symbol der Ära: Hier trafen sich namhafte Künstler, Musiker, Filmstars und die Schickeria, um zu trinken und Kontakte zu pflegen – oder im Fall von Bianca Jagger, um ihre Runden auf einem weißen Pferd zu drehen. 1978 öffnete der Mudd Club in einem Gebäude in Manhattan, das dem Künstler Ross Bleckner gehörte und eine Gästeliste von Jeff Koons bis David Bowie anlockte. (Ein Filmemacher witzelte einmal über den Mudd Club, er sei „ein dysfunktionaler Zirkus, der funktionierte“ gewesen.) Von 1983 bis 1987 veranstaltete der Nachtclub Area eine Reihe wechselnder Ausstellungen und Kunstinstallationen. Jean-Michel Basquiat, Keith Haring und Barbara Kruger zeigten dort ihre Werke und verwischten damit die Grenzen zwischen Kunst und Dekoration, Galerie und Veranstaltungsort.

Colony Room

Colony Room Club, Soho, London

Auf der anderen Seite des Atlantiks schätzten durstige Künstler sechs Jahrzehnte lang – von 1948 bis 2008 – die entspannte Atmosphäre des Colony Room Club im Londoner Stadtteil Soho. Die Besitzerin Muriel Belcher war bekannt für ihre Obszönitäten und Aphorismen, der bekannteste davon womöglich: „Sei nicht so fad und verdammt langweilig.“ Sie selbst behauptete zwar, „einen feuchten Dreck über Kunst“ zu wissen, dennoch war Francis Bacon einer ihrer ersten und treuesten Stammgäste. Er malte ihr Porträt und fungierte als ein inoffizieller Promotor für die Bar: Belcher bezahlte ihn dafür, ihr neue Kunden zu bringen. Im Laufe der Jahre schlossen sich Lucian Freud und die Zeitgenossen der Young British Artists der Gemeinschaft des Clubs an.

In den 1970er Jahren waren die Stadtteile Shoreditch und Hoxton in East London zu Zentren des Punks geworden, und die Kreativszene begann sich von Soho dorthin zu verlagern. In den frühen 1990er Jahren hatten die Young British Artists die Szene und vor allem die Bar Bricklayers Arms infiltriert. Auf einer Party in Hoxton im Jahr 1993 las Tracey Emin Gästen aus der Hand, während Damien Hirst als Clown verkleidet ein Drehgestell für Gemälde aufstellte. Vorbeikommende Gäste konnten für ein Pfund schnell ihre eigenen Werke schaffen, und Hirst signierte sie.

In New York hatte Punk die kreative Landschaft der späten 1970er ebenfalls verändert. Künstlerin Ulli Rimkus bekam einen Job als Barkeeperin in der Bar Tin Pan Alley am Times Square, in der Fotografin Nan Goldin sowohl Stammgast als auch Teilzeitmitarbeiterin war. Kiki Smith, mit der Rimkus auch künstlerisch zusammenarbeitete, war eine weitere Mitarbeiterin. In dieser Bar traf Goldin auf einige ihrer bekanntesten Sujets und machte auch die Fotos von ihnen, unter anderem vom damaligen It-Girl Cookie Mueller.

Max Fish

Max Fish, Lower East Side, New York City

1989 machte Ulli Rimkus ihre eigene Bar an der Lower East Side auf, das Max Fish. Künstler folgten ihr dorthin, unter anderem Tom Otterness. Er half bei der Finanzierung und schenkte dem Lokal eine Bronzeskulptur einer in Polizeiuniform gekleideten Ratte. Die Skulptur war ursprünglich für ein Auftragswerk geschaffen und dann abgelehnt worden. Rimkus veranstaltete monatliche Ausstellungen und Events, bis die erhöhten Mietkosten sie 2013 aus der Tür drängten. Im Jahr darauf eröffnete sie eine Neuauflage des Lokals in derselben Gegend. „Die ganze Nachbarschaft hat sich verändert“, sagt Ulli Rimkus in einem Interview. „Man muss sich anpassen, die Feste feiern, wie sie fallen. Nichts bleibt unverändert. Unsere Klientel ist noch immer recht vielseitig.“ Sie sagt auch, dass ihre Nachbarn alle vertrieben werden oder vor Gericht auf ihre Vermieter treffen. Stattdessen machen sich mehr und mehr Luxushotels in der Gegend breit. Aber das Max Fish versucht auch inmitten des explodierenden Immobilienmarkts etwas vom Geist der Bohème zu bewahren.

Weiter die Straße hinunter ist es das Beverly‘s, das diese Energie für eine jüngere Generation bewahrt – und vielleicht die Aura vom Passerby wieder zum Leben erweckt, der einstigen New Yorker Bar des Galeristen Gavin Brown, die in den 1980er Jahren zumachte. Leah Dixon, die Besitzerin der Bar Beverly‘s und selbst Künstlerin, verfolgt auch den politischen Tenor der Gespräche am Tresen, wo Mezcal und Tequila in rauen Mengen bestellt werden. Vom Barpersonal über die engagierten DJs bis hin zu den ausstellenden Künstlern sind hier alle in ihren Zwanzigern und Dreißigern. „Das sind vermutlich die Leute, die in unserem Land im Vordergrund den Diskurs prägen, auf welche Weise Ungleichheit angesprochen wird“, sagt Dixon. Sie merkt auch an, dass das Beverly‘s selbst als Mittel zu einer Aufwärtsbewegung dient. Hier wird Künstlern eine Plattform geboten, um ihre Arbeit zu zeigen, und ein Ort, um andere Szenemitglieder der Lower East Side zu treffen.

Leah Dixon und ihre Miteigentümer stehen auch einer schmeichelhaften Konkurrenz hoffnungsvoller Start-ups gegenüber. „Sagen wir es mal so, kleine Neon-Bars, die nach einem Frauennamen benannt werden, sind, seitdem wir aufgemacht haben, sehr beliebt geworden“, meint Dixon. Genauso wie es die besten Künstler machen, holen sich auch die besten Künstlerbars Inspiration von ihren Vorgängern, wenn sie neue Räume für einen radikal neuen Diskurs schaffen. Wenn diese Neueinsteiger Kreativität und Gemeinschaft auf verblüffende Weise weiter fördern können – immer zu!

Williamsburg

Williamsburg, NYC

In der Zwischenzeit sind Künstler seit längerem en masse von Manhattan nach Brooklyn abgewandert. 1992, als der Stadtteil Williamsburg zu einem kreativen Außenposten von New York wurde, ernannte der Autor Brad Gooch im New York Magazine Brooklyn zum „New Bohemia“. Obwohl der Bezirk heute mehr mit Bankern als sich durchkämpfenden Künstlern gefüllt ist, hat die Gegend zumindest eine Oase für Künstler bewahrt: das Soft Spot serviert noch immer Drinks für unter sechs Dollar vor 20 Uhr.

Ansonsten sind die Kreativen heute mehr im Osten zu finden, in Bushwick, wo die Mietpreise noch relativ annehmbar sind. Im Honey‘s zapfen Barkeeper Bier von Hähnen, die von Jessi Reaves designt wurden, einer Künstlerin der Biennale des Whitney Museums. Es liegt auch in unmittelbarer Nähe von zwei der tollsten Galerien in diesem Bezirk: Signal und Clearing. Weiter südlich, wo Bushwick an den Stadtteil Bedford-Stuyvesant grenzt, betreibt die Galerie Secret Robot Project die Bar Cuckoo. Hier können Gäste nicht nur etwas trinken, sondern sich auch Ausstellungen und Performance Art ansehen. Die Erlöse finanzieren die Galerie; fast jede Nacht findet eine Party statt.

Was wird passieren, wenn Immobilienentwickler anfangen, Pächter und Gäste auch aus dieser Gegend zu verdrängen? Wenn wir die Geschichte von Künstlerbars in New York als Anhaltspunkt nehmen, können wir davon ausgehen, dass diese Stadt immer irgendwo Wege finden und Orte bieten wird, wo Künstler miteinander an der Bar sitzen können.

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