Kunstwerke unter der Lupe

Duchamps „Fountain“: Urheberstreit um das berühmteste Urinal der Welt

Duchamps Fountain, Fotografie von Alfred Stieglitz

Das Objekt aus Porzellan, das 1917 als „Fountain“ bei einer New Yorker Kunstschau eingereicht wurde, sorgte für einen handfesten Skandal. „Anstößig“ sei es und „nach keiner Definition ein Kunstwerk“, sagte die Society of Independent Artists und lehnte es ab, das Werk auf ihrer Jahresausstellung zu zeigen. Die New Yorker Dadaisten dagegen erklärten, das Objekt sei Kunst allein schon dadurch, dass es von einem Künstler zum Kunstwerk erhoben würde.

Das Objekt? Ein fabrikmäßig hergestelltes Pissoir. Und der Künstler des mit „R. Mutt“ unterschriebenen Skandalstücks? Niemand anderes als der weltberühmte Konzeptkünstler Marcel Duchamp – glaubte man zumindest lange. Seit Frühling dieses Jahres jedoch verdichten sich Hinweise darauf, dass nicht Duchamp, sondern eine Frau aus dem Bekanntenkreis des Künstlers die wahre Urheberin des „Fountain“ ist.

Marcel Duchamp vor dem  „Fountain“. Ist er der rechtmäßige Urheber? Foto via Salim Virji / Flickr.
Marcel Duchamp vor dem „Fountain“. Ist er der rechtmäßige Urheber? Foto via Salim Virji / Flickr.

Muss die Geschichte dieses Schlüsselwerks der modernen Kunst, muss vielleicht sogar die Kunstgeschichte umgeschrieben werden?

Einiges spricht dafür.

Nur zwei Tage nach der Ablehnung der Society of Independent Artists schreibt Duchamp an seine Schwester: „Eine meiner Freundinnen reichte unter einem Pseudonym, Richard Mutt, ein Porzellanurinal als Skulptur ein“. Erst 1982 wurde diese Briefzeile bekannt und im Archives of American Art Journal publiziert. Als „Freundinnen“ Duchamps kommen zwei Frauen infrage, die Übersetzerin Louise Norton, die das Urinal in ihrem Text „Buddha of the Bathroom“ als Kunstwerk bewarb, und die Dada-Künstlerin Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven.

War die Baroness Urheberin des Fountain?

Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, 1874 im damals noch deutschen Swinemünde geboren, hieß mit bürgerlichem Namen Elsa Hildegard Plötz. Ihren Adelstitel verdankte sie ihrem dritten Ehemann, Leopold Karl Friedrich Baron von Freytag-Loringhoven, der bald nach ihrer Hochzeit mit den spärlichen Ersparnissen der Künstlerin verschwunden war. Mit ausgefallenen Ideen und einem exaltierten Lebensstil hatte sich Elsa in New York als rebellische Künstlerin etabliert. Lange vor Duchamp hatte sie damit angefangen, Müll von der Straße aufzulesen, an ihre Kleider zu nähen und das Ergebnis als Kunst zu bezeichnen. Schon 1913 schuf sie die Skulptur „Enduring Ornament“. Hauptbestandteil: ein verrosteter Metallring. Damit ist die Baroness, die Löffel als Ohrringe trug und Tomatendosen als BH, nachweislich die erste Schöpferin eines Readymades und so etwas wie die Großmutter des Dada.

Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven als Dada-Künstlerin (1900). Foto: Wikicommons.

Möglicherweise hat Elsa auch das Pseudonym R. Mutt erfunden. Ausgesprochen klingt es wie das deutsche Wort Armut oder, in verkehrter Richtung gelesen, Mutter. Zwar behauptete Duchamp, das Pseudonym sei ein Wortspiel zum Namen der Haushaltsgerätefirma J. L. Mott Iron Works, bei der er das Urinal gekauft habe. Wie ein Verkaufskatalog der Firma aus dem Jahr 1913 zeigt, hatte die Firma das Urinal zur fraglichen Zeit aber gar nicht im Angebot – Duchamp hat die Unwahrheit gesagt. Ob „R. Mutt“ als „Armut“ oder „Mutter“ gelesen werden darf, ist allerdings unsicher. Dass Elsas Mutter an Gebärmutterkrebs starb, wäre ein Anknüpfungspunkt, zumal das Urinal, wenn man es umdreht, Ähnlichkeiten mit einer Gebärmutter hat.

Die „Unterschrift“ selbst könnte durchaus von der Hand der Baroness stammen, wie ein Abgleich mit handgeschriebenen Gedichten der Künstlerin zeigt.

Dass Duchamp das Werk erst 1950 offiziell als das seine deklarierte, lange nach Elsas Tod im Jahr 1927, ist ein weiteres Indiz dafür, dass nicht er der Urheber war.

Sogar das Konzept des Readymade kann von der Baroness stammen

Warum aber hat Elsa von Freytag-Loringhoven das Werk nie für sich beansprucht? Ruhm und zusätzliche Tantiemen hätte die verarmte Künstlerin gut gebrauchen können, denn ihr New Yorker Erfolg war nicht von Dauer. Und andere Werke hat die selbstbewusste und kampflustige Frau sehr wohl als die eigenen erklärt.

Gegen Elsa als Urheberin des Fountains spricht außerdem, dass Duchamp die Freundschafts- und Liebesbekundungen der Baroness nur sparsam erwiderte – er hätte sie vermutlich nicht zu „einer meiner Freundinnen“ erklärt.

Und, zuletzt: Auch Duchamp schuf nachweislich bereits im Jahr 1913 erste Readymades, u.a. das berühmte, umgedrehte Fahrrad-Rad, eine auf einem Holzhocker montierte Fahrradgabel mit Rad.

 Elsas "Enduring Ornament" aus dem Jahr 1913.
Elsas „Enduring Ornament“ aus dem Jahr 1913.
Marcel Duchamps "Fahrrad-Rad", ebenfalls von 1913. Im selben Jahr notierte Duchamp:  „Kann man Kunstwerke machen, die keine Werke aus ‚Kunst‘ sind?“
Marcel Duchamps „Fahrrad-Rad“, ebenfalls von 1913. Im selben Jahr notierte Duchamp: „Kann man Kunstwerke machen, die keine Werke aus Kunst sind?“

Louise Norton käme als Komplizin, nicht als Urheberin des Skandalstücks infrage

Könnte anstelle der Baroness oder Duchamp auch die Übersetzerin Louise Norton (1890-1989) für den Fountain verantwortlich zeichnen? Sie war eine enge Freundin Duchamps und veröffentlichte in der Dada-Zeitschrift The Blind Man gemeinsam mit Alfred Stieglitz, Walter Arensberg und Beatrice Wood einen Artikel, der den Fountain als Kunstobjekt legitimieren sollte. Damit hat sie die Debatte um das Readymade wesentlich befeuert. Dass sie auch Urheberin des Fountains ist, ist allerdings unwahrscheinlich. Die Übersetzerin hat weder vor noch nach der Fountain-Aktion mit ähnlichen Projekten von sich Reden gemacht. Außerdem hätte sie Duchamps Aneignung zu Lebzeiten widersprechen oder, sollte Duchamp ihr die offizielle Autorschaft untersagt haben, die Freundschaft zu ihm aufkündigen können.

Wenn die Baroness nicht die Urheberin des Fountains und Louise Norton bloße Komplizin Duchamps war, könnte die Geschichte des Skandalstücks folgendermaßen abgelaufen sein: Duchamp kaufte ein Pissoir und signierte es als R. Mutt. Dann bat er seine Freundin Louise Norton, das Objekt bei der New Yorker Ausstellung einzureichen. Nach der Ablehnung trat Duchamp aus der Künstlervereinigung aus und heizte die öffentliche Debatte um den Fountain an. Schließlich schrieb er seiner Schwester Suzanne, um seiner Familie vom Erfolg der Aktion zu berichten.

Die Frage nach dem wahren Urheber – oder der wahren Urheberin – ist bis heute trotzdem nicht endgültig geklärt.

Um die – nach aktuellem Forschungsstand sehr viel plausiblere – Urheberschaft der Baroness letztgültig zu beweisen, wären weitere Zeugnisse nötig.

Umso spannender sind die Fragen, die die Urheberschaftsdebatte aufwirft:
Welche Rolle spielt der Urheber von Kunstwerken, die sich unserem traditionellen Kunstbegriff – Kunstwerke seien technisch herausragende, von einem Künstler angefertigte Gegenstände der Hochkultur – verweigert? Ist der Urheber des Fountains ein Künstler – ist der Fountain Kunst? Was ist überhaupt ein Original in der Kunst?

Der Fountain irritiert bis heute.

Duchamp was here.
Duchamp was here. Foto via Design Observer / Facebook.

Titelbild: „Fountain“ , Fotografie von Alfred Stieglitz (1917). Quelle: Wikicommons.

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