Alte und neue Meister

Alles geben – die Kunst der Marina Abramović

Marina Abramovic und Ulay in "The Artist is Present" (2010)

Schreien, bis die Stimme versagt. Tanzen bis zur Erschöpfung. Präsent sein bis zum Es-nicht-mehr-aushalten-Können.

Es ist das Prinzip der bedeutendsten Aktionen der Performance-Künstlerin Marina Abramović, Grenzerfahrungen aufzusuchen und sie mit allen Sinnen bewusst wahrzunehmen. Ihre Kunst ist radikal, schonungslos, unbequem. Immer wieder begab sie sich in Extremsituationen – ritzte sich mit einer Rasierklinge in den Bauch, peitschte sich aus, lag nackt auf einem Eisblock -, scheute weder Gefahr noch Schmerz. Im Gegenteil. Jede ihrer kompromisslosen Performances schien der heute 73-Jährigen, die vor Jugend geradezu sprüht, mehr Energie, mehr Elan zu verleihen.

Wie geht das – radikal sein, ohne zu zerstören, sich einlassen auf das Andere, ohne sich aufzugeben, leiden, ohne Opfer zu sein? Was heißt es, immer alles zu geben – in der Kunst, in der Liebe, im Leben? Was ist das Geheimnis dieser unglaublichen Energie, dieser Präsenz, dieses Glücks? Suchen wir nach Antworten in ihren über 50 Jahren Performancekunst.

Leben als Performance: Die Abramović-Methode

„In der Abramović-Methode müssen wir uns von Telefon, Computer und Uhren befreien, in eine neue Erfahrung eintauchen, um mit dem Hier und Jetzt in Berührung zu kommen.“

Marina Abramović wurde 1946 als Tochter serbischer Partisanen in Belgrad geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie im Schatten der stürmischen Ehe ihrer Eltern, die in Titos Jugoslawien Heldenstatus genossen, und zeitweise in der Obhut ihrer Großmutter, die sie mit kirchlichen Ritualen und religiösen Praktiken vertraut machte. Um der Realität zu entkommen, begann sie sehr früh zu lesen, zu dichten, zu malen. Als Neunzehnjährige nahm sie ein Malereistudium in Belgrad auf, wandte sich nach ihrem Abschluss aber der Konzept- und Performancekunst zu. Medium war nunmehr sie selbst, ihr Körper, den sie an die Grenzen des Ertragbaren führte. In dieser Zeit in Belgrad entstanden eine Reihe von Performances mit dem Ziel, „schmerzvolle Gefühle“ zu transzendieren, „Dinge, vor denen man Angst hat, alle möglichen schlimmen Erlebnisse aus der Kindheit, die wir in eine Kiste einsperren, weil sie so wehtun.“

Schmerz und Kontrollverlust: Frühe Arbeiten in Belgrad

Mit 26 Jahren sitzt Marina Abramović, mit verschiedenen Messern bewaffnet, in einer Galerie. Sie legt ihre Hände auf das weiße Papier und beginnt, sich mit den Messern zwischen die Finger ihrer linken Hand zu stechen. Dass sie sich dabei verletzen würde, rechnete sie mit ein. Nach kurzer Zeit ist das Papier voller Blut.

Marina Abramović, "Rhythm 10" (1973)
„Rhythm 10“ (1973), Fotos via tumblr.

Nur ein Jahr später performt die junge Künstlerin Rhythm 5. Sie zündet ein großes benzingetränktes Holz-Pentagramm an, schneidet sich Haare und Fingernägel ab, wirft sie in die Flammen und legt sich in das leere Zentrum des Sterns. Dort wird sie ohnmächtig. Als eine Flamme ihr Bein berührt, treten zwei Zuschauer in den Stern und tragen die Bewusstlose hinaus.

Marina Abramović, "Rhythm 5", 1974
„Rhythm 5“, 1974. Bild via Youtube.

In Neapel dann Rhythm 0: Auf einem Tisch liegen 72 Gegenstände, darunter ein Skalpell und ein geladener Revolver. Abramović lädt das Publikum ein, nach Gutdünken mit ihr umzugehen. In der dritten Stunde werden ihr die Kleider vom Leib geschnitten, dann fahren Rasierklingen über ihre Haut. Als ihr jemand die Pistole an den Kopf hält, Finger am Abzug, bricht Tumult aus. Die Künstlerin lässt alles stoisch über sich ergehen. Nach exakt sechs Stunden steht sie auf und beendet die Performance.

Marina Abramović,  "Rhythm 0" (1974)
„Rhythm 0“ (1974), Foto via Youtube.

Warum all der Schmerz, all die Qual?

„Es geht nicht ums Leiden“, sagt Abramović. „Es geht darum, die eigenen Ängste zu verstehen und zu überwinden“. Sich bewusst der Gefahr und dem Schmerz auszusetzen, Leiden aufzuführen helfe, seine Ängste zu überwinden. „Wenn du alles überstanden hast, ist die Freude unbeschreiblich.“

Liebe, Symbiose und Abgrenzung: Zusammenarbeit mit Ulay

1975 trifft Abramović in Amsterdam den deutschen Künstler Ulay (Frank Uwe Laysiepen, *1943). Ein Jahr später lässt sie sich von ihrem damaligen Mann scheiden, zieht nach Amsterdam und arbeitet fortan mit ihrem neuen Lebensgefährten Ulay zusammen. Zwölf Jahre lang führen die beiden eine symbiotische, von tiefer sexueller Anziehung geprägte Liebes- und Schaffensbeziehung.

In einer ihrer ersten Performances laufen die beiden immer wieder nackt aufeinander zu. Die Geräusche, die ihre nackte Haut beim Aufeinanderprallen macht, nehmen sie auf Band auf.

Bei der Performance „Rest Energy“ hält Abramović einen Bogen gegen sich, Ulay hält die Bogensehne zusammen mit einem vergifteten Pfeil, der auf Marinas Herz gerichtet ist, in seiner Hand. Sie spannen den Bogen. Mikrofone zeichnen die sich beschleunigenden Herzschläge auf (4:10, ROSC’80, Dublin, August).

„The Other: Rest Energy“ (1980).

„Die Idee dazu entstand ganz einfach, weil wir beide am gleichen Tag Geburtstag haben, am 30. November. Wir sind Schützen“, sagt Ulay später in einem Interview. Ihre Performances seien Beziehungsarbeit gewesen. „Wir wollten traumatische Ängste in Beziehungen zwischen Mann und Frau ausdrücken. Manchmal ziemlich extrem.“

Nach zwölf Jahren Beziehung trennt sich das Künstlerpaar, ihre Liebe hatte an Spannkraft  verloren, war über die Jahre erkaltet. So entsteht ihre letzte gemeinsame Performance: Ulay und Abramović gehen von beiden Enden der chinesischen Mauer aufeinander zu, treffen sich – nach 2.500 Kilometern und drei Monaten – in der Mitte und trennen sich, privat wie künstlerisch. Der rituelle Gang, das Wiedersehen und die Trennung wurden mit der Kamera festgehalten und als “The Lovers (The Great Wall Walk)“ publiziert.

„The Lovers“ (The Great Wall Walk, 1988). Im Film begegnen und trennen sich Abramovic und Ulay nach einer Stunde (ab 1:00:11).

Provokation und Politik: Solo-Performances seit 1995

Zwischen 1995 und 2005 beschreitet Marina Abramović einen neuen Weg in ihren Solo-Performances. Themen sind nun ihre kulturellen, ideologischen und spirituellen Wurzeln im Balkan. Scham und Schuldgefühle angesichts der Gräueltaten in ihrer Heimat, wo in den 1990ern die Balkankriege wüteten, spielen eine große Rolle.

1997 nimmt die Künstlerin an der 47. Biennale von Venedig teil, wo sie Serbien und Montenegro im jugoslawischen Pavillon repräsentieren soll. Nach einem Konflikt mit dem montenegrinischen Kulturminister sagt Marina Abramović die Zusammenarbeit ab. Stattdessen performt sie „Balkan Baroque“ im italienischen Pavillon. An vier Tagen schabt sie jeweils sechs Stunden lang Fleischfetzen von teilweise noch blutigen Rinderknochen. Dazu singt sie Totenlieder aus ihrer Heimat. Für die Installation erhält Marina Abramović den Goldenen Löwen als „Beste Künstlerin“.

Marina Abramović, "Balkan Baroque" (1997).
„Balkan Baroque“ (1997). Bild via Choo Yut Shing / Flickr.

Verzicht und Entschleunigung: Arbeiten seit 2011 in New York

Seit 2011 lebt Marina Abramović in New York. Die Künstlerin ist zwar nicht sichtbar älter, aber doch weiser geworden. Ihre Performances wirken besonnener, sind aber nicht weniger radikal.

In „The Artist is Present“ sitzt die Künstlerin drei Monate lang im New Yorker MoMA, stumm und regungslos. Sie blickt 1.675 Besuchern in die Augen – darunter auch Ulay. Mehrere Menschen fangen an zu weinen, auch die Künstlerin, die sich dem Publikum gegenüber gänzlich offen und verletzlich zeigt.

Marina Abramović und Ulay in "The Artist is Present" (2010)
„The Artist is Present“ (2010) © 2010 Scott Rudd www.scottruddphotography.com scott.rudd@gmail.com

Bei einer ihrer jüngsten Aktionen, dem Musikprojekt „Anders hören“ in der Alten Oper Frankfurt (März 2019) , wird der Besucher vor einen Haufen Reis gesetzt. „So wie du Reiskörner und Linsen zählst und sortierst, gehst du mit deinem Leben um. […] Wenn du es schaffst, Linsen und Reiskörner zu zählen, wirst du auch das Leben meistern“, erklärt sie.

Glück ist das Ziel

Worum geht es also im Leben? „Disziplin, Selbstkontrolle, Konzentration“, sagt Abramović, und „Entschleunigung, Sich-einlassen“. Die Technologie habe uns kaputt gemacht, unsere Konzentration geraubt. Es komme nun alles darauf an, zu verstehen, was es heißt, mit sich allein zu sein.

Das Geheimnis der Künstlerin für mehr Energie, Präsenz und Glück offenbart sich am Ende als philosophische Weisheit. In der Angst, im Angesicht der eigenen Endlichkeit, kommt der Mensch zu sich selbst. Nur wer die Angst kennt, kann sich erkennen. Selbsterkenntnis ist Bedingung für Glück.

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