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„Obvious“ verbindet Künstliche Intelligenz und Kunst

Das Pariser Kollektiv "Obvious"

Wo Sie auch den Begriff „Künstliche Intelligenz“ fallen lassen, erhalten Sie vermutlich die üblichen Reaktionen: ein kurzes Hochziehen der Augenbrauen, ratloses Schulterzucken, Verweise auf Science-Fiction-Filme und vielleicht den ein oder anderen Roboterwitz. (Anders liegen die Dinge natürlich, wenn Sie sich gerade auf einem Treffen des Chaos Computer Clubs befinden, Programmierer*innen zu ihren engen Freunden zählen und/oder sogar selbst eine*r sind.) Spätestens wenn Sie Kunst in diesem Kontext erwähnen, macht sich bei den meisten von uns Skepsis und Ratlosigkeit breit: Sollen Maschinen nun Künstler ersetzen? Welche Folgen hat es, wenn wir das Kunstschaffen Algorithmen überlassen? Sind Produkte von Maschinen echte Kunstwerke? Was wird dann aus der Freiheit, der Wahrheit, dem Sinn von Kunst?

Das Pariser Kollektiv Obvious kennt diese Fragen nur allzu gut. Seit 2017 bringen die drei befreundeten Programmierer Kunstwerke auf den Markt, die sie mit Hilfe von Generative Adversarial Networks (GAN) erschaffen haben. GAN, zu deutsch etwa ‚erzeugende gegnerische Netzwerke‘, bestehen aus zwei künstlichen neuronalen Netzwerken. Sie bilden einen Zweig der künstlichen Intelligenz (KI). Von ihrer Gründung an hat Obvious viel Aufsehen erregt. Laut Pierre Fautrel, der das Kollektiv zusammen mit Gauthier Vernier und Hugo Caselles-Dupré gegründet hat, sei der Kunstmarkt lange nicht mehr so konservativ wie noch vor einigen Jahren. „Wir haben festgestellt, dass Kunstschaffende und Sammler geradezu sehnsüchtig auf Innovationen und Durchbrüche im Kunstbetrieb warten“.

Beispielloser Erfolg

Wie recht Fautrel hat, zeigt der Erfolg des Kollektivs: Im Oktober des vergangenen Jahres wurde ihr Porträt „Edmond de Belamy“ für rund 400.000 Dollar bei Christie’s in New York versteigert – für das 45-fache des geschätzten Verkaufspreises. Ein in mehrfacher Hinsicht historischer Deal, von dem Obvious bis heute profitiert. Erst letzte Woche wurden einige Werke aus der neuesten Obvious-Serie im Hermitage Museum ausgestellt, noch bevor sie überhaupt zum Verkauf zugelassen wurden. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz und die Geschwindigkeit, in der die drei Programmierer Bekanntheit und Erfolg erlangten, sind in der Kunstwelt beispiellos.

Portrait of Edmond Belamy
„Edmond de Belamy“ des Künstlerkollektivs Obvious. Das Portrait wurde im Oktober 2018 für $432,500 verkauft. Es ist signiert mit einer Zeile aus dem Programmiercode: „min G max D x[LOG(D(X))] + z[log(1-D(G(z)))]“.

Von europäischen Portraits zu japanischen Prints

Erst kürzlich hat Obvious seine neueste Werkserie veröffentlicht, die von japanischen Farbholzschnitten (Ukiyo-e) inspiriert ist. Die Serie trägt den Titel „Electric Dreams of Ukiyo“ und lädt den Betrachter ein, „nach Japan in die letzten Periode der Edo-Zeit zu den dortigen Anfängen der Elektrizität zu reisen“. Zwei Werke der jeweils elf Portraits und Landschaften wurden in der alten Technik der „Moku Hanga“ hergestellt, einer besonderen Variante des Holzschnitts.

Die Serie würdigt eine Ära, die für ihren künstlerischen Reichtum bekannt ist. Parallelen zwischen beiden sind offensichtlich: Die Elektrifizierung Japans während der Edo-Zeit spiegelt die Erfindung und Verbreitung der künstlichen Intelligenz in der heutigen Gesellschaft wider. Wie Fautrel bestätigt, sei dieses Doppelspiel beabsichtigt. Als Reaktion auf die Christie’s-Auktion und die daran anschließende Debatte, welche Rolle Technologie in der Kunst spielen dürfe, hatte sich Obvious entschlossen, sich öffentlich zu äußern – durch Kunst, versteht sich. „Electric Dreams of Ukiyo“ lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine Zeit, in der Japan, heute globales Epizentrum für technische Innovation, der Elektrizität mit Ablehnung begegnete. Wir sollten, darauf weist die Bildreihe hin, aus der Geschichte lernen, bevor wir alarmierende Schlüsse über die Auswirkungen der KI und ihre Rolle in der Kunst zögen.

'The Catfish Bay' by Obvious
„The Catfish Bay“ von Obvious, aus der Serie “Electric Dreams of Ukiyo”. GAN-Algorithmen, Inkjet auf Washi-Papier, 78x106cm.

Mensch gegen Maschine

Natürlich kann die Serie nicht jede Kritik zerstreuen. Es bleibt die Angst vor der „Macht“ der Maschinen, davor, dass Maschinen den Menschen aus seinem in Zeiten der Industrialisierung 4.0 möglicherweise letzten verbleibenden Raum, in dem er frei schalten und walten kann  – der Kreativität, der Kunst, der Kultur – verdrängt.

Und auch die Parallelen zur Edo-Zeit gehen nicht völlig auf. Die Elektrifizierung in Japan hat zu keinem Zeitpunkt die Rolle des Menschen in Kunst und Kultur bedroht. Natürlich kann man auch künstliche Intelligenz als bloßes Werkzeug oder Hilfsmittel verstehen. Ihre Funktion in der Kunst geht allerdings über die einer Kamera für die Fotografie hinaus.

Sind der Kreativität also doch Grenzen gesetzt? Ist die Maschine etwa das Ende der menschlichen Kreativität?

Für Obvious ist künstliche Intelligenz „ein neues Werkzeug, das es dem Menschen ermöglicht, sein kreatives Potential zu maximieren. Umgekehrt hat der Mensch auch erstmals die Möglichkeit, das kreative Potenzial seines Werkzeugs zu maximieren.“ Werkzeug, Mensch, Maschine – verschwimmen hier nicht die Unterschiede? Ist der Mensch noch Mensch, oder schon Maschine – oder ist die Maschine schon Mensch?

Fautrel findet, diese Fragen stechen in ein Wespennest:

„Seit mehr als einem Jahrhundert fördert die Technologisierung den menschlichen Fortschritt, indem sie uns hilft, unsere Mängel auszugleichen. Brillen, Hüftprothesen, Hörgeräte… mit Maschinen können wir Dinge zu tun, die ohne sie unmöglich wären. Nichts davon konnte uns auch nur annähernd in Maschinen verwandeln oder in einen ‚Maschinenzustand‘ versetzen. Ich denke, dasselbe gilt auch für künstliche Intelligenz.“

KI erhöhe unser (kreatives) Potential, könne aber nicht viel mehr, so Fautrel. Es könne noch Jahrhunderte dauern, bis künstliche Intelligenzen als eigenständige Entitäten betrachtet werden könnten. Bis dahin seien sie sicherlich hochleistungsfähige, aber bewusstlose Instrumente ohne eigene Intention und Intuition, mit denen sich Aufgaben äußerst effizient ausführen ließen. Aus der Sicht von Fautrel werde die Macht von KIs also überschätzt, Produkt einer überspannten kollektiven Vorstellungskraft. Computer seien Werkzeuge im Dienste der Menschheit, jetzt und für lange Zeit.

'Katsuwaka of the Dawn Lagoon' by Obvious
„Katsuwaka of the Dawn Lagoon“ von Obvious. GAN-Algorithmen, Inkjet auf Washi-Papier, 78x106cm.

Die Mitglieder von Obvious fühlen sich in ihrer Rolle als Künstler nicht beeinträchtigt, wenn sie mit künstlicher Intelligenz arbeiten. Sie müssen umfangreiche Arbeit leisten – ein Thema wählen, die Werke auswählen, mit denen die neuronalen Netze „gefüttert“ werden, den Algorithmus programmieren, den Output auswählen und sich auf ein Medium einigen -, bevor die Maschine ihren Beitrag zum Kunstwerk leisten kann. Damit bleiben sie Hauptakteure im gesamten Schaffensprozess, auch dann, wenn das Kunstwerk am Ende ganz anders aussieht, als sie es sich zu Beginn vorgestellt haben. Die GAN-Technologie, die Obvious benutzt, kann ihre Inspiration oder Intentionen schließlich nicht reproduzieren.

Künstliche Intelligenz ist für diese Gruppe junger Innovatoren mehr als eine Herausforderung an die eigene Kreativität. Dass sie auch ein Leuchtturmprojekt ist, hat die Gruppe besonders motiviert. Gründungsmitglied Hugo forschte zu Maschinellem Lernen (KI), als er auf GANs stieß. Kurz darauf erklärte er seinen Freunden aufgeregt die leistungsstarken Algorithmen. Das noch unerforschte Potential, der Drang nach Abenteuer und Innovation in der Kunst haben sie dahin geführt, wo sie heute sind.

Eine neue Ära für die Kunst?

Die Ankunft der KI in der Kunst ist eine faszinierende Bereicherung für eine Branche und eine Praxis, die sich ständig weiterentwickelt. Für einige ist sie das Medium der Zukunft. GANismus nennt sich diese neue Bewegung, die bald zur veritablen Künstlerbewegung werden könnte. Puristen stimmt diese Entwicklung vielleicht nicht gerade glücklich. GAN-generierte Bilder machen aber zumindest einige Dinge klar. Neue Technologien können nützlich und sogar schön sein. Sie stellen unsere Auffassung von Kreativität, Eigentum und Autonomie in Frage. Sie können auf interessante Weise Althergebrachtes mit Neuem mischen, sodass etwas noch nie Dagewesenes entsteht. Und sie können drei junge Männer aus den französischen Alpen in renommierte New Yorker Auktionshäuser bringen.

Weitere Informationen finden auf der Homepage von Obvious oder in ihrer interaktiven Webseite zur neuen Serie „Electric Dreams of Ukiyo“ .

Titelbild: Das Obvious-Team – Gauthier Vernier, Hugo Caselles-Dupré und Pierre Fautrel (von links nach rechts).

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