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Jenny Holzer – der öffentliche Raum als Ausstellungsfläche

Jenny Holzer wurde 1950 in Gallipolis (Ohio) geboren. Anfang der siebziger Jahre begann sie ihr Studium der Malerei und Druckgrafik an der Universität von Chicago und der Ohio, um sich schließlich an der Rhode Island School of Design der abstrakten Malerei zu widmen. Ihre Arbeiten, die unter anderem von Mark Rothko inspiriert waren, empfand sie selbst nur als mittelmäßig, weshalb sie sich im Laufe der Zeit von der abstrakten Malerei entfernte und sich einem neuen Medium zuwandte. Nachdem sie 1977 nach New York kam, beschäftigte sie sich in ihren künftigen Arbeiten, hauptsächlich mit Text und Schrift.

Truisms Serie

Den Beginn ihrer Karriere markierte ihre Serie der Truisms. Die Truisms, an denen Holzer 1977 bis 1979 schrieb, bestehen, wie ihr Name bereits erraten lässt, aus einer Vielzahl von Binsenwahrheiten, Phrasen und Allgemeinplätzen. Die zum Teil widersprüchlichen Aussagen, sind meist auffordernd, motivierend und schlagwortartig zugespitzt formuliert. Thematisch sind es Themen über Macht, Politik, Gewalt und das soziale Zusammenleben. Sie geben nicht die persönliche Meinung der Künstlerin wider, sondern ein weit gefasstes Repertoire an Meinungen.

Den Anfang machten auf New Yorker Hauswände geklebte, preiswert herzustellende und anonym dargebotene Plakate, auf denen jeweils vierzig bis sechzig Sätze in Form von Listen abgedruckt waren. Sie sollten die Aufmerksamkeit der Passanten erregen und ihnen zugleich auf entfremdete und irritierende Weise die Vielfalt und Gegensätzlichkeit etablierter Meinungen vor Augen halten. Das Medium des Plakats, das im städtischen Kontext eher Werbe- oder Annoncen- zwecken dient, verlor durch seinen rätselhaften, teils widersprüchlichen Inhalt seine ursprüngliche Funktion und führte so unweigerlich zur Irritation des Betrachters. Neben Plakaten brachte Holzer einzelne Sätze ihre Truisms auch über andere alltägliche Medien wie beispielsweise Sticker und T-Shirts in den öffentlichen Raum.

Bei der Entstehung der einzelnen Sätze ließ sich Holzer von allen politischen und gesellschaftlichen Lagern gleichermaßen inspirieren, sodass von linksorientierten bis zu äußerst konservativen Meinungen jegliche darunter vertreten sind. Es ging ihr darum, „alle nur möglichen Meinungen gleichzeitig und nebeneinander aufzuführen“ um damit ein „wahrhaftes Bild unserer Gesellschaft abzugeben“. Neben Einflüssen aus dem alltäglichen, politischen und sozialen Geschehen, ließ sich Holzer auch durch die Lektüreliste des Whitney Museum’s Independent Study Programs inspirieren, an dem sie 1976 bis 1977 teilnahm.

In die Öffentlichkeit gelangten die Sätze zunächst durch Plakate, T-Shirts, Mützen und Sticker. Bekannt wurde Holzer mit ihren Truisms jedoch erst 1982 durch die Aktion am New Yorker Times Square. Keith Haring war im Januar 1982 der erste Künstler, der seine Arbeiten auf dem Times Square zeigte, im März gleichen Jahres folgte Holzer. Bis 1990 folgten im monatllichen Rhythmus diverse andere Künstler. Für die meisten von ihnen war die Aktion am Times Square nur eine von Vielen; Holzer jedoch fand dadurch zu ihrem bevorzugten Medium, den elektronischen Anzeigetafeln und daraufhin schließlich auch zu den elektronischen Laufschriftbändern, die sie fortan für fast alle ihre Projekte benutzte

Für das Projekt erarbeitete Holzer den genauen Ablauf und Aufbau der Spots. Sie suchte aus den fast dreihundert Sätzen jene aus, die sie persönlich favorisierte. Die Spots liefen, einen halben Monat lang alle zwanzig Minuten für jeweils circa dreißig Sekunden auf dem Spectacolor Billboard.  Sie zeigten auf schwarzem Hintergrund unter anderem folgende Sätze: „PRIVATE PROPERTY CREATED CRIME“, „ABUSE OF POWER COMES AS NO SUPRISE“, „MONEY CREATES TASTE“, „TORTURE IS BARBARIC“, „OFTEN YOU SHOULD ACT SEXLESS“ und „YOUR OLDEST FEARS ARE THE WORST ONES“. Aus ihrer Auswahl geht hervor, dass sie sich für solche Sätze entschied, die ein gewisses soziales Engagement erkennen lassen und zum Beispiel Machtstrukturen kritisieren. Gleichzeitig blieben die gewählten Sätze so allgemein, dass sie sich keiner eindeutigen politischen oder sozialen Gruppierung zuordnen ließen.

Kunst aus dem musealen Kontext gerissen

Nur scheinhaft hat es der Betrachter mit Werbeslogans zu tun. Ihr Inhalt im Zusammenhang mit ihrer Darstellungsform entlarvt sie als Kunstwerk. Die auf der Werbetafel wahrgenommenen Sätze überraschen erst, schließlich verunsichern sie. Der Rezipient, der in diesem Falle in der Regel ahnungsloser Passant, auf jeden Fall kein Museums- oder Ausstellungsbesucher ist, wird keine Erklärung für diese Aussagen finden. Er erwartet an der vertrauten Stelle ebenso vertraute Werbeinhalte oder Bekannt- machungen, die zu mindestens auf einen konkreten Auftraggeber schließen lassen. Diese Erwartungen werden von Holzers Truisms enttäuscht.

Kritik an Massenwerbung

Den affirmativen Inhalten der Werbebotschaften, die auf Konsum und Lifestyle ausgelegt sind, stellt Holzer Botschaften über die Schwächen und Abgründe des menschlichen Lebens gegenüber. Der eindimensionale Charakter der Werbeinhalte wird dadurch entlarvt. Gerade um seine ästhetische Wirkung entfalten zu können, muss Holzers Werk  in der Tarnung einer alltäglichen Situation auftreten. Denn gerade die Unzuordbarkeit des erfahrenen Geschehens ist ausschlaggebend für die Wirkung ihres Werkes. Erst wenn der Betrachter erkennt, dass er es nicht mit einer vertrauten Situation zu tun hat, sondern mit etwas anderem, fremden, wird er dazu angeregt sein über den Inhalt der Sätze zu reflektieren, deren Aussagen zu beurteilen, ihnen zuzustimmen oder zu widersprechen und letztlich auch das Medium selbst zu hinterfragen.

Medium und dessen Funktion

Damit eröffnet ihm Holzers Werk eine neue Sichtweise auf das Medium und dessen Funktion. Denn indem die Erwartungshaltungen des Betrachters nicht eingelöst werden, unterwandert Holzer die Funktion der Werbetafel.  Die Verunsicherung des Betrachters schlägt schließlich in ein Misstrauen gegenüber dem Medium um. Seine Glaubwürdigkeit wird hinterfragt, seine Stellung als „offizielle Sprache der Macht“ entlarvt. Aus diesem Aufzeigen von bisher verborgenen Perspektiven auf die Stellung und Funktion des Mediums, folgt unweigerlich eine kritische Beurteilung desselben. Holzers Installation wird zu einer Art Medienkritik, die das Medium der Werbetafel durch die Aussagen der gezeigten Sätze nicht explizit kritisiert. Die Sätze beziehen durch ihre Form keinen jenseitigen Standpunkt, sondern verüben Kritik an der Werbebranche, indem sie sich ihrer Form nach dieser so gut wie möglich angleichen.

Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit

Betrachtet man die Truisms noch einmal losgelöst von dieser Aktion in ihrer ursprünglichen Idee, wird eine weitere gesellschaftskritische Ebene erkennbar. Holzer gestaltete ihre Truisms gezielt so, dass jeder Leser Sätze darin finden kann, die für ihn „wahr“ sind. Dadurch entstehen Sätze, die sich gegenseitig widersprechen. Die Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit der zusammengestellten Sätze, die sich doch allesamt als Wahrheiten ausgeben, offenbaren die Willkürlichkeit der Vorstellung von Wahrheit selbst. Der Rezipient wird durch das Lesen der verschiedenen Meinungen angeregt den Begriff von Wahrheit zu hinterfragen.

Sprache der Politik und Werbung

Die Truisms eröffnen nicht nur neue Ansichten über die Medien der Werbebranche und üben somit Kritik an diesen, sondern auch über die sprachliche Gestalt, in der sie auftreten, der Sprache der Politik und Werbung.

Fazit

Das Werk Holzers will den Betrachter nicht belehren, es schreibt ihm nicht vor, welche Schlüsse er daraus zu ziehen hat, es zeigt ihm lediglich die Bedeutsamkeit des Dargestellten auf. Indem die Künstlerin die Strukturen der Werbebranche durch deren strikte Befolgung zutage bringt und somit erst sichtbar macht, ermöglicht sie dem Betrachter eine veränderte Haltung gegenüber diesen und regt damit eine kritische Reflexion an. 

Es eröffnet eine neue Sichtweise auf die Wirklichkeit; eine, in der die Medien der Werbebranche, aber auch der Politik (die im Falle der Werbetafel, dasselbe Medium für offizielle Bekanntmachungen benutzt) in neuer Bedeutung als Sprache der Macht dargestellt werden. Gerade weil die Potenz der Medien im Alltag oft unhinterfragt bleibt und sie als offizielle Informationsquellen hingenommen werden, zeigt Holzers Werk somit zugleich die Bedeut- samkeit der Konfrontation Holzers Werk bringt neue Aspekte der Wirklichkeit zutage, die wahr genannt werden können und gleichzeitig ihre eigene Relevanz aufzeigen.