Kunstgeschichte  •  Kunstwerke unter der Lupe

Die Anatomie des Dr. Tulp (1632) – Rembrandt

Rembrandt

Die Anatomie des Dr. Tulp war der Wendepunkt in Rembrandts Karriere. Als relativ unbekannter Maler war es ein großer Erfolg für den erst 25-Jährigen, einen so prestigeträchtigen Auftrag zu erhalten. Aber warum malte Rembrandt überhaupt einen Anatomieunterricht mit einer Autopsie? Und wer ist Dr. Nicolaes Tulp, das Titelsujet des Gemäldes? In diesem Beitrag geht Singulart diesen Fragen nach und erörtert die Komposition des rätselhaften Werkes. 

Wie kann man sich einen Anatomieunterricht vorstellen?

Im Holland des 17. Jahrhunderts stellten Autopsien eine wertvolle Informationsquelle für den Anatomieunterricht dar. Man führte sie immer im Winter durch, weil der Leichengeruch zu jeder anderen Jahreszeit unerträglich war und das kalte Wetter dazu beitrug, die Leiche zu konservieren. Bis zum Abschluss eines solchen Vorführunterrichts dauerte es über einen Tag. Dieser Anatomieunterricht anhand einer Autopsie war nicht nur für Medizinstudenten zugänglich, sondern ein gesellschaftliches Ereignis. Jedes Mitglied der Gesellschaft war gegen Eintritt als Zuschauer willkommen, um dem Sezieren eines Leichnams beizuwohnen. Als diese Vorführungen immer beliebter wurden, beschloss der Stadtrat, den Unterricht in Anatomie und die wichtigen Persönlichkeiten unter den Zuschauern von einem Künstler festhalten zu lassen.

Das Sezieren eines Leichnams stimmte nicht unbedingt mit den christlichen Werten und Ritualen überein. Aus diesem Grund wurden die Leichname von Straftätern verwendet, deren Seelen ohnehin als unrettbar erachtet wurden. Diese moralische Hintertür machte das Sezieren möglich, solange der Anatomieunterricht nicht auf heiligem Boden stattfand.

Wer war Dr. Nicolaes Tulp?

Nicolaes Tulp wurde 1593 als Claas Pieterszoon in Amsterdam geboren. Bereits mit 17 begann er das Studium der Medizin an der renommierten Universität Leiden, wo er 1614 promovierte. In Amsterdam ließ er sich als Arzt nieder und war bald so populär, dass er für seine zahlreichen Termine eine eigene Kutsche benötigte. Er änderte seinen Vornamen zur Langform Nicolaes und seinen Nachnamen zu Tulp, dem niederländischen Wort für Tulpe, die er auch zu seinem Familienwappen machte.

Dr Tulp portrait
Dr Nicolaes Tulp

Sein Einfluss in Amsterdam wuchs auch durch seine Funktion als Stadtrat, und 1628 wurde er zum Dozenten für Anatomie ernannt, der eigene Vorlesungen hielt. Zu seinen Aufgaben gehörte die Inspektion von Apotheken, die in Amsterdam nach der Pest 1635 einen florierenden Handel betrieben. Aufgrund der Wucherpreise, die die Apotheken für ihre alternative Medizin (die weitgehend wirkungslos war) verlangten, trommelte Dr. Tulp eine Gruppe von Kollegen zusammen und erstellte das erste offizielle Arzneibuch von Amsterdam, das eine einheitliche Zubereitung von Arzneimitteln vorsah. Neue Apotheker mussten vor der Eröffnung eines Geschäfts einen Test absolvieren, was sich bald in ganz Holland verbreitete.

Eine der bedeutendsten Leistungen Dr. Tulps war sein 1641 veröffentlichtes Werk Medizinische Beobachtungen. In lateinischer Sprache schilderte er 231 seiner beobachteten Fälle von Leiden und Tod, unter anderem auch von sezierten Tieren aus den holländischen Kolonien, wodurch es von vielen auch als „Buch der Ungeheuer“ bezeichnet wurde. In dem Werk findet sich beispielsweise die Geschichte von Jan de Doot, einem Schmied, der die medizinische Behandlung für einen Stein in seinem Fuß verweigerte und ihn selbst mit einem geschliffenen Messer herausschnitt (und diese eigenhändige Operation überlebte). Dr. Tulp schilderte auch seine Beobachtungen zu Krankheitsbildern, die wir heute als Migräne bezeichnen, erörterte die verheerenden Auswirkungen von Tabak auf die Lungen und beschrieb den Placebo-Effekt.

Dr. Tulp war zudem viele Jahre Bürgermeister von Amsterdam, wo er 1674 im Alter von 80 Jahren starb.

Komposition von Die Anatomie des Dr. Tulp

Die Anatomie des Dr. Tulp war Rembrandts erster großer Auftrag nach seiner Ankunft in Amsterdam. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des 216,5 × 169,5 cm großen Bildes war er gerade erst 26 Jahre alt.

Grundlage für dieses Gemälde in Öl auf Leinwand war eine Anatomievorführung am 31. Jänner 1692. Es ist nicht klar, ob Rembrandt direkt vor Ort die Szenen so skizzierte, wie er Dr. Tulp beim Unterrichten seiner Studenten sah, oder ob er die Vorführung besuchte und, davon inspiriert, das Gemälde aus seiner Fantasie schuf. Dass auf dem Bild weder Brusthöhle noch Brustkorb des Leichnams geöffnet sind, lässt die Annahme zu, dass Rembrandt sich künstlerische Freiheiten für die Darstellung erlaubte. Generell wären das die ersten Bereiche, die bei einem Leichnam geöffnet werden, weil die Organe darin am schnellsten verwesen. Eine andere Theorie geht jedoch davon aus, dass Rembrandt eine Herangehensweise darstellte, bei der der Fokus auf der Beobachtung der Lymphgefäße und der „weißen Venen“ lag.

Dr. Tulp hätte das Sezieren höchstwahrscheinlich nicht selbst durchgeführt. Das wäre die Aufgabe des Präparators, der den Körper für die Sektion vorbereitete und sich um die untergeordneten Arbeiten kümmerte, während der Vortragende sprach. Möglicherweise ist dies auch der Grund dafür, dass auf dem Kunstwerk nur ein einziges medizinisches Instrument zu sehen ist. 

Dr. Tulp nimmt einen prominenten Platz im Bild ein, während er zu sieben Studenten spricht. Er hält die Armmuskulatur des Straftäters Aris Kindt, der nach einer Reihe von Raubüberfällen zum Tod durch Erhängen verurteilt worden war. Interessanterweise malte Rembrandt den Bauchnabel wie den Buchstaben R. Kunsthistoriker vermuten als Grund dafür, dass Rembrandt damals seine Signatur überarbeitet und geübt hat. Im Unterschied zu anderen medizinischen Darstellungen dieser Zeit steht Kindts scheinbar leuchtender Körper im Mittelpunkt des Bildes, seine Pose lässt an eine Christus-ähnliche Ikonographie denken.

Auch das Publikum aus sieben Männern schimmert im Licht. Das mag symbolisch für ihre Erleuchtung stehen, während sie den Worten von Dr. Tulp lauschen. Oder es könnte eine Metapher für das Goldene Zeitalter der Niederlande sein. Die Blickrichtung der Studenten ist unterschiedlich – manch einer sieht zu Dr. Tulp, andere auf den Leichnam, und die dritten scheinen den Betrachter direkt anzusehen. Beleuchtet von einer weiteren Lichtquelle, wirkt Dr. Tulp fast wie aus einer anderen Szene ausgeschnitten und eingefügt.

Bei dem aufgeschlagenen Lehrbuch in der rechten unteren Ecke des Gemäldes handelt es sich vermutlich um einen Teil von De humani corporis fabrica libri septem (Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers) von Andreas Vesalius, das die neuzeitliche Anatomie begründet hat. Indem Rembrandt das Buch in das Gemälde aufnahm, stellte er Dr. Tulp mit den großen Meistern der Medizin auf eine Stufe.

Portrait Vesalius
Andreas Vesalius

Mit Die Anatomie des Dr. Tulp setzte sich Rembrandt über die damaligen Konventionen bei medizinischen Darstellungen hinweg. Er konzentrierte sich mehr auf die psychologischen als auf die medizinischen Aspekte des Unterrichts, was vielleicht die technischen Fehler in dem Werk erklärt. Durch diese ungewöhnliche Wahl der Darstellung, seine Beherrschung der Porträtmalerei und des Chiaroscuro schuf Rembrandt mit Die Anatomie des Dr. Tulp ein Meisterwerk der Kunstgeschichte und zugleich eine Momentaufnahme des Anatomieunterrichts im 17. Jahrhundert.

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